État Libre d'Orange - La Fin du Monde
État Libre d'Orange - La Fin du Monde
DAS ENDE DER WELT
Wir wissen genau, was Sie jetzt denken. Alles schon da gewesen. Apokalyptische Visionen, Armageddon, Weltuntergangskulte, Massenselbstmorde. Der Maya-Kalender. Wir haben die Panik um die Jahrtausendwende überstanden. Wir haben von „Dr. Seltsam“ bis „Melancholia“ alle einschlägigen Filme gesehen. Wir kennen die Prophezeiungen des Neuen Testaments und haben schon von der Endzeit mit ihrem Heulen und Zähneknirschen gehört.
Doch vergessen Sie all das. Denn wir kennen die wahre Geschichte – erzählt von dem Schriftsteller und Dichter Blaise Cendrars. Der gebürtige Schweizer mit Wahlheimat Frankreich und nur einem Arm gilt als Vertreter des Protoexpressionismus und revolutionärer Wegbereiter der Moderne. Das von ihm erschaffene Pseudonym „Blaise Cendrars“ verweist auf die französischen Worte für Glut und Asche.
Im Jahr 1919 verfasste Blaise Cendrars sein Werk „La Fin du monde filmée par l'Ange Notre-Dame“ („Das Ende der Welt, gefilmt vom Engel Notre-Dame“), und wir bei Etat Libre d’Orange sind der Ansicht, dass dieses Werk einen eigenen Duft verdient.
Gott in der Gestalt eines Geschäftsmanns erfasst die Zahlen und verwirft sie wieder. Er beziffert lediglich die Verluste. Es war ein gutes Jahr. Der Erste Weltkrieg hat eine solide Rendite eingebracht. Doch er kann sich nicht darauf ausruhen, sondern muss noch bessere Ergebnisse erzielen. In diesem Moment erhält er ein Telegramm von einem ergebenen Diener vom Mars. Seine Anwesenheit bei einer Propaganda-Prozession ist erforderlich.
“LA LUNE TOURNE VISIBLEMENT”
Gott springt in seine Limousine und lässt sich von seinem Chauffeur zum Bahnhof fahren. Dort nimmt er den interplanetaren Zug. Die Prozession soll in Mars City stattfinden, und alle Religionsgründer nehmen daran teil. Sie lassen ihre gotischen Kathedralen, heidnischen Tempel und ihre Synagogen zurück. Die Prozession wird begleitet von wehenden Fahnen und Konfettiregen, und es werden historische Ereignisse wie die Himmelfahrt Mohammeds und das Massaker an den Katharern nachgestellt. Wilde Darbringungen, laut dröhnende Musik, eindringliche Gerüche – in dieser Parade der Religionen wird das gesamte Register der gröbsten sinnlichen Elemente gezogen. Das erschreckende Spektakel macht den sensiblen Marsianern jedoch Angst, sodass sie schließlich die Polizei rufen. Aggressive Roboter stürmen die Prozession. Es herrscht Panik und Chaos, die Parade wird aufgelöst, und Gott flieht in die Wüste.
“LE SOLEIL S’IMMOBILISE”
Während sich Gott im Grand Hotel erholt, hat er eine Idee, die den Ersten Weltkrieg – diesen unerbittlichen und schonungslosen irdischen Krieg – noch übertreffen soll. Er ruft die uralten Schurken aus dem Alten Testament zusammen. Doch weil sie sich nur streiten, schickt er sie wieder fort.
Sein ergebener Diener zeigt ihm daraufhin ein Foto des Engels von Notre-Dame de Paris, der eine Trompete in seinen Händen hält. Gott ist sicher, dass der Engel die Aufgabe erledigen wird, und lässt ihm eine Nachricht zukommen. Nun wechselt die Szenerie nach Paris, wo die Einwohner der Stadt ihrem gewohnten Leben nachgehen. Es ist Mittag. Auf dem Platz vor der Kathedrale Notre-Dame passieren Busse die Verkehrsinsel, Geschäftsmänner überqueren die Straßen und Studenten strömen hinunter an die Seine. Hoch über dem Geschehen führt der Engel von Notre-Dame seine Trompete zum Mund, holt Luft und fängt an zu blasen.
“TOUTES LES VILLES DU MONDE SE LÈVENT À L’HORIRON”
Die Passanten halten sich die Ohren zu und blicken nach oben. Plötzlich tut sich ein Loch in der Sonne auf. Sterne werden sichtbar, und der Mond beginnt sich zu drehen. Alle Städte der Welt gleiten in Richtung Horizont. Alles, was der Mensch jemals erschaffen hat, bricht über den Lebenden zusammen und begräbt sie unter sich. Die Sonne wird schwächer, die Gletscher werden größer, das Eis breitet sich aus, bis schließlich alles gefriert. Dann wird die Sonne allmählich größer. Es regnet unerlässlich. Die Sonne tropft, und alles schmilzt dahin. Die Sonne rückt immer näher und setzt Feuerstöße frei. Es regnet nach wie vor. Schließlich ist die Sonne nur noch ein körniger, phosphoreszierender Nebel über einem fauligen Meer. Ein dunkles Auge schließt sich über allem, was gewesen ist. Alles ist schwarz. In einem chaotischen Durcheinander verschmilzt alles miteinander. Über all dem lässt der für den Projektor zuständige Angestellte das Gerät laufen. Eine Sicherung springt heraus, eine Feder geht kaputt, und der Film läuft rückwärts.
“TOUT EST NOIR”
Der letzte Lichtstrahl setzt die ölige See in Brand. Die schwarze Erde bewegt sich. Die Elemente Wasser, Luft und Feuer geraten in Bewegung. Ein vom Meeresschaum umhülltes Auge öffnet sich. Dinge beginnen zu kriechen. Allmählich wird es trockener. Farne richten sich auf, Gase destillieren, Gletscher entstehen. Schafe laufen über Hügel, Kühe und Pferde grasen auf den Wiesen. In Paris fahren wieder Busse und Autos durch die Straßen. Auf dem Platz vor Notre-Dame herrscht geschäftiges Treiben. Mit einer müden Geste nimmt der Engel die Trompete von seinen Lippen. Und wie steht es mit Gott? Auch er läuft rückwärts. Er verlässt die Wüste, kehrt zur Prozession zurück und reist vom Mars ab. Er steigt rückwärts aus seiner Limousine und kehrt in sein Büro zurück. Und dort sitzt er – der allmächtige Gott – wie zu Beginn, an seinem amerikanischen Schreibtisch, und kaut auf seiner Zigarre. Völlig bankrott.
Das ist also die Geschichte vom Ende der Welt. Nun wissen wir, was geschehen wird. Eine wichtige Frage bleibt jedoch offen:
Wie wird das Ende der Welt riechen?
BLAISE CENDRARS
Blaise Cendrars hat seinen Platz unter den Großen der Literatur gefunden, nachdem seine Werke in die renommierte französische Sammlung Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen wurden.
Cendrars wurde 1887 als Frédéric-Louis Sauser in La Chaux-de-Fonds in der Westschweiz geboren. Er unternahm zahlreiche Reisen in die entlegensten Winkel der Erde und hinterließ ein umfangreiches literarisches Werk. Cendrars galt gemeinsam mit Apollinaire, den er stark beeinflusste, als Wegbereiter der literarischen Avantgarde vor und nach dem Ersten Weltkrieg.
Er starb 1961 in Paris. Was bleibt, sind seine Bücher, seine Fotografien ... und seine Stimme.
© Aus Liebe zum Duft (p/hb)