Der Stoff, aus dem die Duftträume sind
„Wir fanden auf dieser Insel allerlei Kostbarkeiten, darunter reinen Amber, der aus den Tiefen des Meeres stammt, Moschus und Edelsteine, die in der Sonne funkelten“. Sindbad der Seefahrer war von seinem Fund mehr als begeistert. Er wusste genau, dass Ambra – oder Ambergris – eine seltene Kostbarkeit ist. Dabei handelt es sich bei Ambra streng genommen um nichts anderes als Walkotze. Das klingt zunächst wenig verlockend, doch letztendlich ist es ein Stoff, aus dem Träume entstehen – vor allem für den glücklichen Finder eines dieser wachsartigen Klumpen. So geschehen etwa im Oktober 2021, als ein Fischer im Süden Thailands einen über 30 Kilogramm schweren Brocken fand und damit zum Millionär wurde.
Ambergris, auch als „Schwimmendes Gold“ bekannt, ist eine der seltsamsten und faszinierendsten natürlichen Substanzen, die seit Jahrhunderten Abenteurer, Alchemisten, Märchenerzähler, Könige und vor allem Parfümeure begeistert. Es ist eine wachsartige, graue Substanz, die sich im Verdauungstrakt von Pottwalen bildet. Da Pottwale am liebsten Tintenfische und Sepien mit scharfkantigen Schnäbeln verspeisen, entsteht im Magen- und Darmtrakt über Monate oder sogar Jahre hinweg eine Art Schutzschicht, die die harten und unverdaulichen Bestandteile der Nahrung umhüllt und schließlich als Ambergris ausgeschieden wird. Oft treibt diese Masse jahrelang im Meer, wo Sonne, Wasser und Salz sie langsam verändern und veredeln. Frisch ausgeschieden, soll Ambergris äußerst „gewöhnungsbedürftig“ riechen, genauer gesagt: faulig, fischig und animalisch – wie eine Mischung aus Fisch und Exkrementen. Doch je länger Ambergris im Ozean treibt, desto mehr verändert sich der Geruch, wird komplexer und entfaltet jene unverwechselbare Duftnote, die schwer zu beschreiben ist: holzig, erdig und leicht süßlich, sinnlich und warm, mit einem Hauch von Tabak und Moschus. Ein Stoff, der aus einem simplen Parfum einen langanhaltenden, cremig-orientalischen Traum machen kann – und einst, im Frankreich des 17. Jahrhunderts, auch als Tropfen in heißer Schokolade der dernier cri war.
Bis heute wird Ambergris in der Parfümerie als Fixativ geschätzt. Es verlängert nicht nur die Intensität und Haltbarkeit eines Duftes, sondern verleiht Tiefe, Charakter und eine weiche, elegante Basis. Da Ambergris jedoch selten und teuer ist, wird es kaum noch in seiner natürlichen Form verwendet. Stattdessen kommen fast ausschließlich synthetische Alternativen zum Einsatz und die überwältigende Mehrheit der Parfums, selbst im hochpreisigen Segment, verlässt sich auf Ambroxan. Echtes Ambergris findet man nur noch in sehr exklusiven, maßgeschneiderten Parfums der absoluten Luxusnische. Das Verhältnis könnte kaum deutlicher sein: Etwa ein Parfum von 100.000 oder sogar einer Million enthält tatsächlich noch echtes Ambergris, wenn „Ambra“ als Duftnote angegeben wird. Alle anderen verwenden - je nach Hersteller - Ambroxan, Cetalox, Ambermax oder Grisalva.
Aber kein Grund zur Beunruhigung: Für Laien ist es meist schwer bis unmöglich, einen Unterschied zwischen echtem Ambergris und Ambroxan in einer Duftkomposition wahrzunehmen, zumal nur die wenigsten jemals das Original gerochen haben. Ambroxan bildet die warmen, holzigen und latent moschusartigen Noten des natürlichen Ambergris so täuschend echt nach, dass selbst Parfumkenner oft kaum einen Unterschied bemerken. Dabei verwendet die Branche meist den Oberbegriff „Ambra“, sowohl für echtes Ambergris als auch für synthetische Alternativen. Dies ermöglicht Marken und Parfümeuren synthetische Alternativen zu verwenden, ohne explizit darauf hinzuweisen. Ambroxan klingt halt weniger verheißungsvoll und begehrenswert als das geheimnisvolle, mystisch legendäre „Ambra“. Trotzdem gibt es mehr und mehr Marken, die auf Transparenz setzen. So machte Escentric Molecules mit Molecule 02 Ambroxan zum Trendduftstoff, indem erstmals explizit auf 100 % Ambroxan als Duftstoff gesetzt wurde. Das wirkte überaus modern und avantgardistisch und wurde zu einer Art Markenzeichen für viele „cleane“ Parfums, die danach kamen. Darüber hinaus zeigt es auf eindeutige Weise einen ethisch verantwortungsvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen.
Übrigens: Sind Sie neugierig, welcher Duft heute noch echtes Ambergris enthält? Es ist „Haute Luxe“ von Roja Parfums. Für 3.025 Euro erhalten Sie 100 ml erlesenen Luxus, den Roja Dove ursprünglich für sich selbst kreiert hat. Falls Sie also ein besonders exklusives Geschenk suchen … hier ist es! Ich hingegen bleibe sehr gerne bei all den synthetischen Varianten. Denn das Wichtigste ist doch, dass ein Duft gefällt und gut riecht – egal, wie der Stoff genannt wird, aus dem die Amber-Träume sind.