Es lebe der gepflegte Stilbruch

Mit 16 Jahren war ich der festen Überzeugung, dass ich unbedingt einen schneeweißen, nahezu knöchellangen Mantel brauche. Den hatte ich damals in einer angesagten Boutique im Schaufenster gesehen. Um die 300 DM sollte er kosten. Das war nicht nur eine Menge Geld, sondern auch eine Summe, die ich selbstverständlich nicht zur Verfügung hatte. Also fragte ich mutig, ob es vielleicht möglich wäre, den Mantel für mich zu reservieren. Die Inhaberin der Boutique war nicht nur sehr verständnisvoll, sondern bot mir sogar eine Art Ratenzahlung an: Sobald ich etwas Geld hätte, sollte ich es vorbeibringen und den Mantel damit quasi peu à peu abbezahlen. Kurz und gut, ein Weihnachts- und Geburtstagsfest später, plus ein paar Sonderschichten als Babysitter und Aushilfe in einer Gärtnerei, konnte ich das Objekt meiner Begierde stolz wie Bolle nach Hause tragen. Der einzige Kommentar meiner Mutter zu dem weißen Prachtstück war: „WANN willst Du DAS anziehen?“

Für meine Mutter war mein neuer Mantel ein klassischer „Fauxpas“; ein Fehlgriff, der nach geltenden sozialen Regeln als unangemessen und heillos überzogen gelten würde. Während der Fauxpas (aus dem französischen „faux“ = falsch und „le pas“ = der Schritt) oft auf Unwissenheit oder mangelnde Kenntnis zurückzuführen ist, gilt der Affront als absichtliche Verletzung der geltenden Etikette. Ich hingegen kannte beides nicht und fand meinen weißen Mantel einfach nur grandios. Und auch, wenn es mir heute schwerfällt nachzuvollziehen, dass ich unbedingt als Mischung aus „Frau in Weiß“ und Schloßgespenst durch die Gegend radeln wollte, war mein Outfit damals - zumindest modisch gesehen - over the top und spektakulär. So spektakulär, dass die Nachbarstochter Doris - mir und meinem Mantel nachstarrend - leider den nächsten Baum übersah und frontal dagegen lief. Zumindest wurde dies später von meinen beiden jüngeren Schwestern berichtet, die das Spektakel beobachtet hatten. Aber ob nun Fauxpas oder Affront, für eine kurze Zeit war mein weißer Mantel in unserer Straße legendär. Leider ist ein letztendlich schmutziger, weißer Mantel dann doch keine Avantgarde, sondern einfach unansehnlich. Mit der Folge, dass wir dann doch keine Freunde fürs Leben wurden.

 

White Parfums

 

Trotzdem habe ich damals eines gelernt: Ein gepflegter Stilbruch macht nicht nur Spaß sondern ermutigt auch, einfach mal aus der Reihe zu tanzen. Man muß sich nicht an jede geltende Norm halten, zumal es ohnehin mehr als genug Benimm- und Verhaltensregeln gibt: Sprich nicht mit vollem Mund, sitz gerade und gib die schöne Hand; Speisen gehen zum Mund und nicht der Mund zum Teller, man isst nicht mit den Fingern, man streitet nicht in der Öffentlichkeit; Weiß trägt man nur im Sommer, Glitzer nur am Abend; Über 40 keinen Minirock und lange Röcke gehören bestenfalls in die Oper. Natürlich sind gepflegte Umgangsformen und gutes Benehmen grundsätzlich eine Geste des respektvollen Miteinanders, jedoch beschneiden viele gesellschaftliche Verhaltensregeln die persönliche Entfaltung oder sie bedingen die Ausgrenzung derjenigen, die diese Regeln nicht kennen, zumal etliche „Dos and Don'ts“ dem aktuellen Zeitgeist und jeweiligen Kulturraum unterworfen sind.

Nichtsdestotrotz gibt es einen halbwegs gesicherten Verhaltenskodex. Zumindest, wenn man nicht als ungehobelt, unhöflich oder gar ungesittet angesehen werden möchte, sondern vielmehr als gut erzogen, höflich und kultiviert gelten will. So gab man beispielsweise in Zeiten der Pandemie aus Rücksicht weder die rechte, noch die linke Hand, sondern gar keine (was ich im Übrigen weitestgehend beibehalten habe). Und dass bei Tisch das Herumfuchteln mit dem Besteck nicht lässig ist, sondern andere gefährden kann, sollte jedem einleuchten. Oder beispielsweise beim Essen mit einer intensiv raumfüllenden Parfumdosis konfrontiert zu werden, ist keine Frage des persönlichen Geschmacks, sondern eine Belästigung. Gleiches gilt im Übrigen für das Handyklingeln im Theater, Kino, beim Gottesdienst oder auf Beerdigungen.

Auf der anderen Seite sollte es dem persönlichen Geschmack überlassen bleiben, 3/4 Hosen in beige, Sneaker zum Anzug, Socken in Sandalen und Abendkleider auf dem Wochenmarkt zu tragen oder als Schlossgespenst durch die Gegend zu radeln. Solange persönliche Vorlieben nicht den Freiraum eines Anderen beschneiden, gilt: De gustibus non est disputandum. Denn letztendlich gibt es in Fragen des Geschmacks weder richtig noch falsch. Im Gegenteil: Je eintöniger, langweiliger und uniformierter unsere Welt ist, desto mehr sehnen wir uns nach dem Besonderem, nach Schönheit, Exklusivität und Individualität. Und wie man sich in Szene setzt, muss jede(r) für sich entscheiden - ob mit einem auffälligen Kleidungsstück, einer außergewöhnlichen Frisur, einem seltenen Hobby oder mit einem besonderen Duft. In diesem Sinne betrachten sie unsere heutige, elegante Duftauswahl als Aufforderung zum gepflegten Stilbruch und etwas mehr Glamour im Alltag. Sie müssen sich ja nicht gleich mit Ihrem neuen Parfum übergießen.



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