Mehr Meer, bitte!

Als Kind erscheint einem die Zeit endlos und das Leben wie ein großes Wartezimmer: Wir warten auf den Schulschluss, auf den Sonntag, den nächsten Geburtstag oder auf Weihnachten. Mit sechs war Zukunft für mich ein abstraktes Wort, und meine Vorstellungskraft reichte gerade mal bis zu den nächsten Sommerferien.

Mit sechzehn gelangte ich dann zu der Überzeugung, dass das „wahre“ Leben den Erwachsenen vorbehalten ist und folglich mit achtzehn beginnt. Als es dann endlich soweit war, hatte ich die Hälfte meiner bis dahin geschmiedeten Pläne vergessen, und der Rest war nicht umsetzbar, weil in meinem Leben alles war wie zuvor: Ich ging zur Schule, wohnte bei meinen Eltern, hatte kein Geld und keinen Führerschein.

Mit anderen Worten: Ich hatte jede Menge Zeit, und mein Leben war ebenso ereignislos wie überschaubar.

Das Vergehen der Zeit ist nach Sekunden, Minuten, Stunden, Wochen, Monaten und Jahren exakt definiert. Trotzdem ist die Zeit nach Einstein relativ, denn ohne Raum keine Zeit und ohne Zeit kein Raum. Doch grau ist alle Theorie und umso bunter die Phantasie. Als Individuen nehmen wir Zeiträume subjektiv unterschiedlich wahr. Sind unsere Tage zum Beispiel randvoll gefüllt mit interessanten Erlebnissen, vergeht die Zeit wie im Fluge. Verläuft der gleiche Zeitraum eher eintönig und ereignislos, erscheint er uns quälend lang und im wahrsten Sinne des Wortes langweilig. Paradoxerweise empfinden wir Zeitabschnitte retrospektiv betrachtet genau umgekehrt: Haben wir z.B. im Urlaub viel erlebt und verfügen über entsprechend zahlreiche Erinnerungen, erscheinen uns selbst wenige Tage im Rückblick als sehr lang. Haben wir hingegen über einen langen Zeitraum nichts Bemerkenswertes erlebt, und es existieren nur wenige Details in unserem Gedächtnis, dann fragen wir uns, wo die Zeit geblieben ist.

Als der französische Romancier Marcel Proust im Januar 1909 einen Zwieback in seinen Tee tauchte, versetzte ihn dieser unwillkürlich in seine Kindheit zurück. Die Folge war mit „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ einer der bedeutendsten Romane des 20. Jahrhunderts. „Verloren“ im Proust’schen Sinne ist Zeit, die wir als vergeudet empfinden oder Zeit, die für uns unwiederbringlich vergangen ist, weil sie nicht mit Erinnerungen konserviert wurde. Ich zum Beispiel, freue mich immer monatelang auf den Sommer. Wenn er dann da ist, und die Temperaturen endlich sommerliche 25 Grad erreichen, lebe ich in den Tag hinein und verschwende meine Zeit, als ob der Sommer niemals enden würde. Dabei gibt der Sommer vor allem in Norddeutschland ein mehr als kurzes und mitunter inhaltlich fragwürdiges Gastspiel. Es empfiehlt sich allein deswegen, die Zeit intensiv für Schönwettervorhaben zu nutzen. Oder empfinde ich möglicherweise die norddeutschen Sommer nur deswegen als kurz und quasi nicht existent, weil ich es regelmäßig versäume, mein Gedächtnis mit Eindrücken und Erlebnissen zu füllen?

Daher hatte ich mir fest vorgenommen, dass es in diesem Jahr für mich "mehr Meer" geben sollte: Endlich mal wieder eine Nordseeinsel besuchen, lange Strandspaziergänge machen und Schwimmen gehen. Geworden ist daraus leider nichts, weil es ein ums andere Mal verschoben wurde. Und jetzt ist der Sommer vorbei. Immerhin habe ich es geschafft, im Juni einen Sonnenschirm zu bestellen, der - termingerechte Lieferung vorausgesetzt - nunmehr die ersten Herbsttage statt den Sommer mit mir erleben wird. Sei’s drum, dieser Sonnenschirm wird gemeinsam mit Acqua di Sale im sommerlich bunten Flakon mein Proust’scher Zwieback sein und dafür sorgen, dass ich mir den Sommer 2021 zurückholen kann, wann immer mir danach ist. In diesem Sinne, genieße ich jetzt die letzten warmen Tage und nutze sie für ein paar sommerlich meeresfrische Erinnerungen.

Christiane Behmann Christiane Behmann ist Diplom Sozialwissenschaftlerin und Texterin. Nachdem sie lange Jahre als Pressereferentin für verschiedene Unternehmen tätig war, wagte sie 2000 mit einer eigenen Werbeagentur den Schritt in die Selbständigkeit. 2007 gründete sie das „Archiv für Duft & feine Essenzen“ und war damals eine der ersten Bloggerinnen Deutschlands. Seit 2009 war sie außerdem Inhaberin vom Duftcontor in Oldenburg und arbeitet jetzt wieder in ihrem alten Beruf.


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